Uli Oesterle - Vatermilch
Wie schlimm ist es für ein Kind, wenn sein Vater verschwindet?
Inhaltsangabe:
München 1975: Disko, freie Liebe, Kokain- und Champagnerexzesse, das ist die Welt von Rufus Himmelstoss. Der egozentrische Frauenheld lebt konsequent über seine Verhältnisse. Als er im Suff einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem eine junge Mutter und ihre beiden Kinder sterben, geht er im Obdachlosenmilieu auf Tauchstation. Zwischen Wodka und Wohnheim fasst Rufus Himmelstoss einen weitreichenden Entschluss. Für sich. Und für seinen Sohn…
Rasante Fabulierfreude, vielschichtige Figuren und treffsichere Dialoge zeigen einen Erzähler auf der Höhe seiner Kunst; innovative Bildfolgen und elegant-leichte Zeichnungen einen Comic auf der Höhe der Zeit: Mit Vatermilch erbringt Uli Oesterle den Beweis, dass eine Graphic Novel über Alkoholismus und Verantwortung tiefgehend und sensibel sein kann und zugleich wahnsinnig unterhaltsam.
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Dies ist eins der wenigen Bücher, die einen mit Aufschlagen der ersten Seite an der Wurzel der Seele packen und nicht mehr loslassen. Es ist schier unmöglich, sich dem Sog der Bilder und der Worte zu entziehen. Uli Oesterle erzählt in etwas abgewandelter Form die Geschichte seines Vaters, der nach einigen unschönen Ereignissen eines Tages verschwand und auf der Straße lebte, bis er im Alter von 75 Jahren in einem Heim verstarb. Oesterle nennt ihn Rufus Himmelstoss, sich selbst tauft er in Victor um. Außerdem erzählt der Autor vom tiefen Fall in einer Welt voller Disco-Glitzer und Partygetümmel, in der es einzig um den verlockenden Rausch geht: Alkohol, Drogen, Frauen und schnelle Autos. Auf der anderen Seite die zurückgebliebene Familie.
Der Vater bekommt einen deutlichen Stempel aufgedrückt und fungiert in dieser Geschichte als der unsympathische Protagonist, dessen Drang nach Abwechslung stärker und dessen Träume immer teurer werden und dem die Rechnungen irgendwann über den Kopf wachsen. Alles nur aus Jux und Dollerei? Rufus ist ein Markisenverkäufer, der gerne einen über den Durst trinkt, Karten spielt und Frauen verführt. Zeit für die Familie daheim bleibt da nur wenig übrig. Das klingt erst einmal nach jemanden, mit dem man im normalen Leben keinen Umgang pflegen möchte, richtig? Tatsächlich aber entwickelt der Leser eine gewisse Empathie ihm gegenüber, weil er merkt, dass das, was nach außen transportiert wird, keine Reflektion des Innenlebens ist. Dass ein Alkoholabhängiger versucht, sich und sein Leben zu ändern, letztendlich jedoch an seiner Sucht scheitert, ist nämlich keine unbekannte These. So etwas erleben wir im alltäglichen Leben um uns herum. Umso greifbarer und ergreifender wird Rufus' Elend für den Leser. Nichts wird überspitzt dargestellt, aber auch nicht beschönigt.
Noch mehr konnte mich der Autor mit seinem jüngeren Ich packen. Es war sicher nicht leicht, sich in die frühere, schwere Zeit hineinzuversetzen, sich zu erinnern, wie die Familie nach dem Verschwinden des Vaters auseinanderbrach, und sich der Zurückweisung dessen erneut bewusst zu werden. Man bekommt das Gefühl, der Autor hätte mit diesem Werk emotional ein bisschen was aus seiner Kindheit aufgearbeitet. Deutlich wird das durch die verschiedenen Perspektiven. So erleben wir neben Rufus Himmelstoss und seinem sechsjährigen Sohn ebenso den erwachsenen Uli, den er hier Victor nennt und der ebenfalls mit Suchtproblemen zu kämpfen hat. Trotzdem spürt man auch hier die familiäre Zerrissenheit und kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie viel von dem, was wir als Sucht bezeichnen, genetisch bedingt ist.
Eine sehr vielseitige Geschichte, bei der man am Ende nicht weiß, welche Abenteuer, über die man liest, tatsächlich so stattfanden. Der Autor selbst betont, dass er die Lücken füllen und sich daher einiges ausdenken wollte.
Besonders hervorzuheben ist das Ambiente der 70er Jahre, die der Autor mit geschickt platzierten Details atmosphärisch darbietet. Die grafische Umsetzung ist großartig gelungen. Sowohl die expressiven Figuren wie auch die Nutzung von Schwarzflächen und das Wählen von bestimmten Farbgebungen sprechen definitiv für das Handwerk des Autors.
Persönliches Fazit: Eine außergewöhnliche Geschichte über das Leben, Erfahrungen in der Kindheit und Selbstreflexion, mit autobiografischen und fiktiven Elementen, humorvoll und zugleich berührend erzählt. Ich freue mich auf weitere Teile dieser Reihe.
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Bibliografie:
Autor: Uli Oesterle
Verlag: carlsen
ISBN: 978-3551711588
Reihe: Vatermilch Teil 1
Genre: Graphic Novel
Erscheinungsdatum: 26.05.2020
Seitenanzahl: 128
Format: HC: 20,00 €
Leseprobe: Blick ins Buch
Leseexemplar: Ja
Rezension: © RO, Julie
Cover Original: © carlsen
Grafikgestaltung: RO, Sabrina
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