Interview mit: Prof. Dr. Michael Tsokos

Ich habe Deutschlands bekanntestem Rechtsmediziner sehr interessante Fragen gestellt.
 
Sie sind Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner - wie fühlt sich das an?

Naja, den Titel habe ich mir nicht selbst verliehen. Er ist durch die Medien und meinen Verlag entstanden, weil ich vermutlich einer der ersten Rechtsmediziner war, die ihren Beruf publik gemacht und die Institutstüren für die Öffentlichkeit geöffnet haben, um zu zeigen, was im Sektionssaal vonstattengeht. Es fühlt sich gut an, zu wissen, dass man der Öffentlichkeit etwas gibt, was sie bisher noch nicht hatte und wie ein Schwamm aufgesaugt wird.

Als Sie vor etwa 30 Jahren aufgrund einer Vorlesung in Kiel die Liebe zu diesem Fach entdeckten, stand für Sie fest, eines Tages als Rechtsmediziner arbeiten zu wollen. Gab es jemals eine berufliche Alternative?

Es gab für mich als Jugendlicher die Alternative, Archäologe bzw. Unterwasserarchäologe zu werden. Das waren meine ersten Berufswünsche, ehe ich mich dazu entschied, Medizin zu studieren, und dadurch auf die Rechtsmedizin gekommen bin.

Um die Zeichen des Todes richtig lesen und deuten zu können, muss man über viel Fachwissen verfügen – so wie Sie. Kommt es trotzdem manchmal vor, dass auch Sie noch etwas Neues erfahren bzw. dazulernen?

Ja! Ich sehe tatsächlich immer wieder neue Dinge, denke über naturwissenschaftliche Zusammenhänge neu nach und habe zudem die Möglichkeit, über den Tellerrand zu gucken, weil ich viel mit der Kriminalistik und allen anderen medizinischen Disziplinen zu tun habe. Das ist für mich auch das Spannende an der Rechtsmedizin, dass ich immer etwas Neues dazulerne. Ich bin ein sehr neugieriger und wissbegieriger Mensch. Es macht mir Spaß, wenn ich Zusammenhänge verstehen kann, sich Dinge für mich erschließen – das macht für mich den Reiz aus.

Hört man den Begriff „Rechtsmediziner“, stellt man sich automatisch jemanden vor, der den ganzen Tag mit Leichen zu tun hat. Stimmt das? Wie abwechslungsreich ist der Beruf wirklich?

Die Rechtsmedizin hat nicht nur mit Leichen im Sektionssaal zu tun, was zwar den Großteil der Arbeit ausmacht, jedoch untersuchen wir auch Lebende. Genauer gesagt: überlebende Opfer von Gewalttaten. Das können Opfer von Kindesmisshandlung sein, Sexualdelikten oder von häuslicher Gewalt. Während andere Ärzte therapieren und behandeln, dokumentieren wir Rechtsmediziner die Verletzungen so detailliert, dass diese vor Gericht exakt und vor allem stichfest vorgetragen werden können.

Gibt es ein bestimmtes Geräusch, beispielsweise während einer Obduktion, das Sie nicht gern hören?

Das Kreischen der elektrischen Säge, die zum Öffnen des Kopfes verwendet wird, in Kombination mit dem Geruch nach verbranntem Knochen, finde ich schon gewöhnungsbedürftig.

Wie schnell haben Sie sich an die Gerüche im Sektionssaal gewöhnt? Wie würden Sie diese beschreiben?

Die Gerüche im Sektionssaal sind manchmal wirklich brutal. Man muss sich das so vorstellen: Man wirft ein Steak bei 30 Grad in einen Mülleimer, fährt dann in den Urlaub und hat, wenn man zurück ist, einen sehr fiesen Gestank, der sich in der ganzen Wohnung verteilt hat. So in etwa riecht es bei uns häufig, wenn wir fäulnisveränderte Leichen haben. Wasserleichen riechen ebenfalls sehr speziell: scharf, stechend und leicht fischig. An diese Gerüche im Sektionssaal habe ich mich gewöhnt, aber ich mag sie nach wie vor nicht.

Denken Sie heute noch an ihre erste Leiche zurück? Wie war es für Sie, das erste Mal mit einer konfrontiert zu werden?

Ja, ich denke noch oft an sie zurück. Eine 19-jährige Frau, die sich das Leben genommen hat – und zwar auf drei Arten gleichzeitig! Um nicht die Sensationslust oder zum Nachahmen anzuregen, möchte ich nicht näher darauf eingehen, aber diese Entschlossenheit der jungen Frau brachte mich zum Nachdenken. Wenn sie solche Energie in ihr Leben gesteckt hätte, hätte sie eigentlich alles erreichen können.

Privat bin ich allerdings schon eher mit einer Leiche konfrontiert worden. Als ich 11 Jahre alt war, das war 1978, gab es eine Schneekatastrophe in Schleswig-Holstein. Ein Mann fiel direkt vor mir tot um, griff sich dabei an die Brust. Meine Mutter, die Ärztin ist, eilte zu ihm, um ihn zu reanimieren. Leider erfolglos.

Die nächsten Leichen gab es dann im Anatomieunterricht.

Um was ging es bei Ihrem außergewöhnlichsten Fall?

Kann ich nicht genau sagen. Es gab Fälle, bei denen ich nur einen Kopf untersucht habe und der Rumpf noch gar nicht da war. Es gab Fälle von Leichenzerstückelung, Opfer von Serienmördern oder terroristischen Anschlägen.

Eigentlich ist vieles in der Rechtsmedizin außergewöhnlich. Nicht ein Fall ist wie der andere. Darüber kann man in meinen vier Sachbüchern lesen: Dem Tod auf der Spur, Der Totenleser, Die Klaviatur des Todes, Die Zeichen des Todes.
 

Konnten Sie bisher jeden Ihrer Fälle aufklären?

Ich bin nicht derjenige, der die Fälle im klassischen Sinne aufklärt, sondern versuche im Sektionssaal eine Todesursache zu finden. Es gibt aber immer wieder Fälle, bei denen das nicht möglich ist. Weil der Leichnam beispielsweise zu stark fäulnisverändert ist oder eine innere Krankheit, wie Herzrhythmusstörungen, vorlag, die wir nicht nachweisen können. Bei etwa drei bis fünf Prozent der Fälle können wir keine genaue Todesursache im Sektionssaal feststellen. Das ist allerdings nicht weiter dramatisch, denn was die Staatsanwaltschaft eher von uns wissen möchte, ist: Hat eine äußere Gewalteinwirkung eine Rolle gespielt? Ist jemand durch eine Vergiftung zu Tode gekommen?

Welches ist das am meisten genutzte Mordinstrument?

In Deutschland sind es definitiv die Messer – und nicht die Schusswaffe, wie in Film und Fernsehen gern suggeriert wird. Warum Messer? Sie sind überall leicht zu erwerben, man benötigt für sie keinen Waffenschein und man kann sie unbemerkt am Körper mit sich tragen.

Haben Sie schon mal jemanden obduziert, den Sie kannten?

Kam tatsächlich schon vor. Zum Glück niemanden, den ich persönlich kannte bzw. mit dem ich gut befreundet war, sondern eher Prominente, die ich aus dem Fernsehen kannte oder die ich mal auf einer Veranstaltung getroffen habe.

Können Sie Job und Privatleben gut voneinander trennen, oder nehmen Sie einen Fall auch mal mit nach Hause?

Kann ich - und muss ich auch. Ich muss bei meinen Fällen völlig emotionslos sein, um objektiv zu sein, eine professionelle Distanz bewahren und darf das nicht an mich heranlassen. Wohingegen ich aber als Vater und Ehemann zu Hause nicht emotionslos und distanziert bin. Bedeutet: Sobald ich die Tür des Instituts hinter mir abschließe, lasse ich alles, was ich dort drin gesehen habe, zurück.

Sie haben in Ihrem Berufsleben schon allerhand gesehen, das andere Menschen schockieren und unter Umständen traumatisieren könnte. Hatte das auch Einfluss auf Ihr Essverhalten? Können sie zum Beispiel Innereien essen, ohne dabei an den Sektionstisch zu denken?

Ich bin ein leidenschaftlicher Esser. Noch nie habe ich mir von meiner Arbeit den Appetit vermiesen lassen und habe auch noch nie beim Essen an sie gedacht. Trotz der zahlreichen Wasserleichen, die auf meinem Sektionstisch landeten, esse ich sehr gerne Fisch – am liebsten Zander und Barsch. Und ich esse auch gerne Fleisch, bin also kein Vegetarier. Besonders italienischen Gerichten bin ich nicht abgeneigt.

Wann und wodurch entstand der Wunsch, ein eigenes Buch zu schreiben?

Ich habe mal einen Thriller-Autor beraten, das ist jetzt fünfzehn Jahre her, und in unseren Gesprächen habe ich ihm berichtet, was ich an dem Tag so gesehen und untersucht habe. Da meinte er mal zu mir, wenn ihm das ein anderer Autor erzählt hätte, ein Drehbuchautor oder ein Filmschaffender, dann hätte er diesem wohl gesagt: Quatsch, so etwas gibt es doch gar nicht!

Dabei ist die Realität viel härter und viel verrückter als die Fiktion, und so meinte er zu mir, ich müsse das mal aufschreiben. Das habe ich dann tatsächlich gemacht; so entstand das Buch „Dem Tod auf der Spur“. 
 

Verarbeiten Sie dadurch bestimmte Erlebnisse?

Ich würde schon sagen, dass das Schreiben ein bisschen wie eine Art Therapie ist, weil ich in meinen fiktionalen Büchern meine Helden, Protagonisten und Antagonisten so anlegen kann, wie es nicht im wirklichen Leben ist. Ich kann vieles in meinen Geschichten zu einem guten Ende bringen – zumindest für die Hauptfiguren.

Vermutlich ist das Autorendasein für mich ein Ersatz für die Psychotherapie auf der Couch, weil ich mir die Dinge von der Seele schreiben kann.

Um was geht es in Ihrem Podcast „Die Zeichen des Todes“?

Es geht um echte, authentische Fälle, die ich alle selbst am Sektionstisch untersucht habe und bei denen ich auch überwiegend als Gutachter vor Gericht war. Das macht den Reiz aus, deswegen auch „der einzig wahre True Crime Podcast“, weil ich eben derjenige bin, der bei jedem Fall involviert war.

Sie nutzen auch Ihren Instagram-Account, um Interessierten einen Blick in Ihren Berufsalltag zu gewähren, der offensichtlich einen großen Teil Ihres Privatlebens einnimmt. Was tun Sie, um sich ein wenig Erholung zu verschaffen?

Ich fahre gern mit meinem Fahrrad und in Begleitung meines Hundes Fidi in den Grunewald. Darüber hinaus bin ich ein leidenschaftlicher Angler. Im Sommer bin ich an jedem Wochenende draußen in Brandenburg an einem See. Dort habe ich an einem Steg ein Boot liegen, mit dem ich rausfahre aufs Wasser, um etwas zu fangen. Zwar oft nicht erfolgreich, aber es geht mir auch um diese Ruhe, die man dort hat. Und ich mag Lost Places, besuche alte, verlassene Ruinen, die dem Zerfall preisgegeben sind.

Und eine Frage, die unsere Leserschaft sicher brennend interessiert: Welches Buch lesen Sie derzeit privat?

Derzeit lese ich „Rote Ikone“ von Sam Eastland. In dieser Reihe geht es um einen Privatermittler zu Stalin-Zeiten. Das ist mittlerweile der sechste Teil. Natürlich habe ich alle vorigen auch schon gelesen.

Auf was dürfen sich Ihre Fans demnächst freuen, steht etwas Aktuelles an?

Die Fans dürfen sich auf den Auftakt einer neuen Reihe von mir freuen.

Am 1. Mai erscheint „Kaltes Land“ – ein authentischer und knallharter Thriller mit der Rechtsmedizinerin Sabine Yao, die man bereits aus der Fred Abel-Reihe kennt. Sie bekommt nun ihre eigene Reihe. Und das Reizvolle für mich daran war, dass ich mich nun in eine weibliche Hauptfigur hineinversetzen musste. Gut, sie ist Rechtsmedizinerin, das heißt, dass ich das logische und analytische Denken von mir nehmen konnte. Die Frage, wie ich mich als Frau in bestimmten Situationen verhalten würde, ist sehr spannend. Insbesondere darauf bezogen, wenn es darum geht, als körperlich unterlegene Frau Gewalt ausgesetzt zu sein und es mit einem männlichen Antagonisten aufnehmen zu müssen.

Weiterhin dürfen sich die Leserinnen und Leser auf den dritten und letzten Teil der Paul Herzfeld-Trilogie im Herbst freuen. Den Namen darf ich schon verraten: „Abgetrennt“. Es geht rechtsmedizinisch und auch sonst wieder richtig zur Sache! 
 
 
Das Gewinnspiel läuft auf Facebook und parallel auf Instagram. Viel Glück!
 
 
 

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