Die Faszination des Bösen














Im Rahmen der aktuellen Blog-Tour zu "Infam" von André Wegmann, habe ich mich für einen Artikel entschieden und infolgedessen einige Menschen befragt, die auf ganz unterschiedliche Art mit "dem Bösen" konfrontiert wurden.

Es sind nicht nur die Schaulustigen oder die Medien, die nach jedem Detail über ein Verbrechen lechzen. Die Faszination des Bösen steckt in vielen von uns. Wir sehen uns Krimiserien an, lesen Thriller- und Horror-Romane, diskutieren über Gefängnis-Dokumentationen, sind ständig auf der Suche nach dem Kick und ertappen uns selbst dabei, wie wir uns dem spannungsgeladenen Sog hingeben und uns bereitwillig von ihm mitziehen lassen. 

Franz Wuketits von der Universität Zürich erklärt in seinem Buch "Warum uns das Böse fasziniert", dass es nicht nur direkt um das Gute oder das Böse geht, sondern um alles, was stark von der Norm abweicht. Vor allem, wenn jemand etwas tut, was wir selbst niemals tun würden und was uns aber so sehr interessiert, weil uns unser eigener Alltag womöglich viel zu trivial und trist erscheint. Also verlangen wir nach Ungewöhnlichem, nach Nervenkitzel, Adrenalin und Euphorie. Und nicht bei jedem reicht es aus, das Gefährliche zu sehen, diese Menschen möchten das Böse erzeugen, es erleben, ausleben. Dabei spielen Dominanz, Macht und Aggressivität oft eine große Rolle. 

Mich hat interessiert, wie verschiedene Personen- und Berufsgruppen auf dieses Thema reagieren und was sie mir dazu erzählen können. 

Zuerst habe ich mich an den Autor gewandt, um dessen Buch es hier geht: André Wegmann
"Ich denke, dass viele Menschen sich aus morbider Neugier und Nervenkitzel für Morde, Täter und Motive interessieren. Gewaltverbrechen lösen Unverständnis und einen Schock aus. Man fragt sich: Wie konnte jemand so etwas tun, was hat ihn dazu getrieben? Als Autor habe ich die Erfahrung gemacht, dass es in Büchern vielen Lesern gar nicht böse, krank und pervers genug sein kann. Und in meinem Roman Infam gehe ich noch ein paar Schritte weiter. Dort werden derart abgestumpfte Menschen gezeigt, denen Fiktion nicht mehr ausreicht, um unterhalten zu werden und ihren Kick zu bekommen. Sie wollen sich an echten Gräueltaten und Leid ergötzen. Stichwort: Snuff."
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Michael Merhi, Chef vom Redrum Verlag und Verleger von Infam: "Wenn unser Nachbar ein Massaker anrichtet, wollen wir als erstes wissen: warum? Das ›wie‹ ist erstmal zweitrangig. Aber danach – so sind wir Menschen halt – wollen wir alles penibel bis ins kleinste Detail erfahren. Wir wollen erfahren, wie jemand im Stande dazu war, seine ganze Familie abzuschlachten und wie er sich am Ende selbst gerichtet hat. Wir lieben Klatsch und Tratsch und wenn Blut fließt, werden wir alle hellhörig. Ich glaube nicht, dass jemand ein Buch liest, um die Handlung eventuell in die Tat umzusetzen. Da ticken wir Menschen anders. Wenn sich jemand dazu entschlossen hat, diese eine Tat zu realisieren, dann befindet er/sie sich eh in einem Tunnel und hört nur noch auf die innere Stimme, die ihm/ihr zuflüstert: Los, mach die Juliette kalt! Ihretwegen muss ich das hier alles niederschreiben 😀 Wir wollen nach einem langen Tag gut unterhalten werden und die Angst im Nacken spüren. Das entspannt uns und wenn wir uns richtig gruseln, löst das in uns sogar Wohlgefühl und Glücksmomente aus, so ähnlich, als ob wir Schokolade essen würden – nur ohne Kalorien. Extremliteratur beleuchtet ein Thema anders als herkömmliche Literatur es tut. Wenn z.B. A.C. Hurts in Carnivore oder Ralph D. Chainsin Cannibal Holidays über Kannibalismus schreiben, dann wird die Kamera auf das, was gerade geschieht, voll draufgehalten anstatt es auszublenden. Die meisten Autoren denken, dass man das der Fantasie des Lesers überlassen sollte. Ich hingegen finde, dass das Bullshit ist. Es sind meistens die Autoren, die seitenweise das Zwitschern der Vögel oder die Beschaffenheit eines Teppichs beschreiben, die das sagen. Wenn ich den Vergleich mit Hannibal bringen darf … Da sieht man sehr gut, das Thomas Harris das Thema Kannibalismus nur am Rande behandelt. Wenn man wirklich wissen will, wie man einen Menschen am besten zerstückelt und zubereitet, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als REDRUM-Bücher zu lesen! P.S. In Franklin von Stefanie Maucher gibt es sogar herrliche Rezepte zum Nachkochen 😋
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Norbert Löffler (Autor): "Wir erschrecken uns gerne, es löst bei uns eine ganz besondere Emotion aus: die Erleichterung danach. Wenn wir einen Unfall sehen, wenn wir das Schrecken erblicken, dann sind wir froh, dass es uns nicht persönlich betrifft. Eine weitere Emotion ist die Angst. Sie ist ein Warnsystem, das für das Leben notwendig ist. Aber wenn wir diese Angst nur beobachten können, sie uns nicht selber trifft, sind wir anders berührt, fasziniert. Ich schreibe Psychothriller. Nicht ohne Grund, denn so verarbeite ich Emotionen. Dazu dienen mir "Böse Menschen" mit sehr "bösen Gedanken und Taten". Blut, die Tabuisierung der Thematik des Todes, das alles hat damit zu tun."
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Simone Trojahn (Autorin) glaubt, dass im Extremfall jeder von uns fähig ist, zum Äußersten zu gehen, auch wenn die meisten es leugnen würden. "Sei es aus Wut, Angst, Selbstverteidigung oder zum Schutz der Liebsten. Menschen, die selbst zu Tätern werden, geraten entweder in Extremsituationen, wo sie sich nicht anders zu helfen wissen oder sind durch eine Persönlichkeitsstörung so konstituiert, dass sie kein Gewissen haben und ihnen das Töten, aus welchen Gründen auch immer, Freude bereitet bzw. eine Sucht für sie darstellt. Der Grund, warum ich harte und extreme Bücher schreibe, ist Selbsttherapie. Ich stecke alle negativen Emotionen hinein und beschäftige mich mit dem "was wäre wenn". Solange die schlimmen Sachen nur den Charakteren in meinen Geschichten passieren, fühle ich mich ein bisschen besser und ich kann dabei gleichzeitig Frust und eigene Ängste abbauen."
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Dietmar Cuntz (Autor, Richter) vermutet, dass schon im Altertum danach geforscht wurde, was die Faszination des Bösen ausmacht. "Jeder Mensch spürt böse Anteile in sich, die er nicht ausleben darf. Schon als Kind wird ihm vermittelt, dass Aggression ihm schadet. Vielleicht ist das ein Grund, dass er seinen bösen Trieben in anderer Form nachspürt. Er verfolgt Zeitungsberichte über Massaker, sieht Kriminalfilme oder liest Krimis. Die Fantasie, sich Böses vorzustellen, bleibt erhalten. Unter Umständen gelingt es, den bösen Teil der Persönlichkeit abzuspalten und zu beruhigen. Solange jemand das Böse nur in Nachrichten oder Krimis erfährt, kann er sein Gewissen beruhigen." 
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Matthias Bürgel (Autor, Kriminalhauptkommissar): "Meine Erfahrung ist, dass die Menschen für Tod und besonders grausige Taten eine perfide Faszination zu haben scheinen. Warum Menschen Krimis oder Horrorfilme anschauen - dazu gibt es viele verschiedene Theorien. Auch die Frage "Warum wird ein Täter zum Täter?" ist ziemlich komplex. Bei Tötungsdelikten bin ich der Meinung, dass jeder Mensch zum Mörder werden kann. Entscheidend ist der Trigger. Angst, Panik, Zorn, Beschützerinstikt, Eifersucht, Habgier, Neid ... also all die niederen Beweggründe. Blut hat die Menschen ja eh schon immer fasziniert." 
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Daniela N. wurde als Kind von ihrem Großvater sexuell missbraucht. Er gab ihr das Gefühl, dass die Gute-Nacht-Küsse auf sein Glied völlig normal seien. Wie sich Jahre später herausstellte, kam es ebenfalls zu unfreiwilligen sexuellen Handlungen zwischen ihrem Großvater, ihrer Mutter und ihren Schwestern. Die Familie zerbrach daran, die Mutter wurde alkoholabhängig und Daniela N. musste sich fortan um ihre Geschwister kümmern. Noch heute fällt es ihr schwer, Gefühle zu zeigen. Sex war für sie mehr eine Notwendigkeit und nichts, was Spaß macht. "Ich kann es niemals vergeben. Ich kann einfach nicht verstehen, wie man unschuldigen Kindern so etwas antun kann. Vielleicht wählte er uns, seine eigene Familie, weil das für ihn leichter war. Ich denke, dass er einfach meine selbstverständliche Zuneigung ausgenutzt hat. Als Kind erwartet man von seinem Großvater ja nichts Böses."
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Auch Marlene G. (Name wurde von der Redaktion geändert) wurde im Kindesalter mehrfach sexuell missbraucht. Viele Jahre hat sie diese Taten verdrängt. Erst in der Pubertät kamen ihre Erinnerungen wieder hoch, nagten an ihr. Unterstützung fand sie keine. Stattdessen hat ihr Umfeld mit Vorwürfen reagiert und das Schreckliche heruntergespielt: "Das passiert vielen Mädchen. Du bist gut in der Schule, also hast du das doch verkraftet." Was sie tun würde, wenn sie ihren einstigen Peinigern erneut begegnen würde, fragte ich sie. "Wiederholungstäter würde ich kastrieren, damit der Drang unterdrückt wird."
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Natascha Schimanski (Rechtsanwaltsfachangestellte, Bloggerin): "Ich glaube, dass in jedem Menschen, egal wie klein dieser Anteil sein mag, etwas Böses steckt. Es müssen nicht direkt Mordgedanken sein. Ich finde, Missgunst, Hass, Neid und Habgier sind auch schon Eigenschaften des Bösen. Ich persönlich finde es spannend, welche Handlungsmotive hinter einer Tat stecken. Dabei interessiert mich vor allem die Psyche des Täters. Als Kind habe ich, wie viele andere auch, gern meine Grenzen ausgetestet, Verbotenes gemacht, nur um diesen Kick zu spüren. Allerdings kam ich dabei nie mit dem Gesetz in Konflikt. Wieso auch? Am Ende bringt es einem nichts als Ärger.
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Eva Mirschel (Leserin): "Ich liebe einfach dieses Gefühl der Aufregung, der Spannung, welches man beim Lesen von Horror bekommt. Der Puls steigt, das Herz schlägt schneller und man ist komplett vertieft. Aber auch bei Extremen Horror, wo der Splatter mehr im Vordergrund steht, ist mein Kopf Feuer und Flamme. Beim Lesen dieser Geschichten stellt man sich unweigerlich vor, wie es wohl wäre, wenn man selber der Protagonist oder gar der Täter selbst wäre. Würde man als Opfer gleich handeln? Anders handeln? Bei diesen Büchern, aber am meisten bei Real Crime, ist es einfach die Faszination zu sehen, wie weit Menschen gehen können, wie weit die Hemmschwelle reicht. In der Realität muss man sich an viele Regeln und Gesetze halten. Im Buch macht jeder, was er will. Ich brauche einfach die Spannung, den Thrill, den Grusel. Denn mein Alltag ist stellenweise langweilig genug."
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Thomas L. ist Barkeeper. Er liebt es, nah am Menschen zu sein, sich während der Arbeit zu unterhalten oder einfach nur zuzuhören. Oft kommt es vor, dass manche Besucher sich den Frust von der Seele reden. Er lächelt sie an, schenkt ihnen Aufmerksamkeit und gibt ihnen das Gefühl, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine dastehen. Das war aber nicht immer so. Thomas wies als Kind soziopathische Züge auf. Er wirkte stets in sich gekehrt, lebte in seiner Traumwelt, hielt sich nicht an Regeln und Normen, besaß keinerlei Schuldbewusstsein oder authentische Emphatie. "Als Kind weiß man gar nicht, ob das Gefühl, das man gerade hat, gut oder schlecht ist. Auch nicht unbedingt, wenn man etwas älter ist. Als ich damals als Teenager die Katze unserer Nachbarin im Keller bei uns eingesperrt habe, fühlte sich das okay an, völlig normal. Mir kam absolut nicht in den Sinn, dass das falsch sein könnte. Tagelang hielt ich sie dort, ohne bedeutenden Grund. Ich streichelte sie nicht, spielte nicht mit ihr, gab ihr weder Futter noch Wasser. Sie war da, weil ich es so wollte. Als man sie irgendwann tot auffand, wussten irgendwie alle gleich, dass ich das war. Aber selbst als meine Mutter vor mir kniete und weinte, fühlte ich nichts. Man zwang mich zu verschiedenen Therapien, die ich erst ablehnte, verhöhnte und als Zeitverschwendung ansah. Doch je mehr Gespräche ich mit Pflegern, Ärzten und Psychologen hatte, desto mehr kam der kleine Junge in mir zum Vorschein, der von seinem Vater verprügelt wurde, später von Klassenkameraden, und dem man oft die Schuld daran gab, dass es in der Ehe nicht mehr so gut lief. Seit ich mich um diesen kleinen Jungen kümmerte, veränderte sich mein Leben ... zum Guten."
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Ich danke an dieser Stelle allen Mitwirkenden, deren Aussagen ich nicht zitiert, aber im Kontext verwendet habe:

Nicole L., Julia Schauer, Steffy Jung, Antje Gimmer, Ramona Wegener, Mary Ebert, Svenja Lorenz, Maraki Mary, Christine Willemse, Silke Seidl
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Weiterführende Links:

Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 
Serienmörder, Psychopathen und die Faszination des Bösen (www.fluter.de) 
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Redaktion: Juliette M. Braatz 


4 Kommentare:

  1. Ein super Artikel! Das ist wirklich ein interessantes Thema und die interviewten Personen können unterschiedlicher nicht sein. Die Geschichte von Marlene und Daniela geht einem sehr ans Herz. Toll, dass die beiden so offen gesprochen haben.

    Danke für diesen tollen Artikel!

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  2. Ein super Beitrag mit einem großartigen Thema, das mich auch selber immer interessiert. Mein erstes Buch, was ich gelesen habe hieß "Unter Pechschwarzen Sternen" und dies war auch Thriller und war sehr interessant. Mfg Trixi

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  3. Der Artikel ist wirklich interessant! Ich würde mich freuen, so etwas öfter zu lesen! Danke an die Mitwirkenden für die Offenheit!😊

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Danke für deine Nachricht!