Was lesen Deutschlands ... Häftlinge?


Was liest man eigentlich, wenn nicht nur die Bücher-Auswahl begrenzt ist, sondern auch der eigene Freiraum? Ein Leben in deutschen Haftanstalten stellen sich viele trist und langweilig vor. Unsere Buchcommunity möchte den Tatsachen auf den Grund gehen und herausfinden, ob, wie viel und was genau gelesen wird.

 
Bücher entführen in andere Welten. Sie öffnen die Tore zu Fantastischem, Romantischem oder Schrecklichem. Man kann jede Tür öffnen, die man möchte, und sich auf die Reise begeben. „Wenn man ein gutes Buch hat, was einem gefällt, vergisst man alles. Die Zeit vergeht schneller“, erzählt Marion Vagedes. Sie leitet die Gefängnisbücherei in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede. Seit fünf Jahren kümmert sich die hauptberufliche Deutschlehrerin um die dortige Bücherei. Gemeinsam mit ausgewählten Inhaftierten wird der Medienbestand aktuell gehalten und gepflegt, sortiert und zur Ausleihe bereitgestellt.

Für die 400-500 Männer und knapp 70 Frauen stehen ungefähr 8.000 Medien zur Verfügung. Über die Hälfte davon – etwa 5.300 – sind Bücher. „Sachbücher, Recht, Wirtschaft, Chemie, Physik, Wörterbücher – aber auch Belletristik steht in den Regalen“, erklärt Frau Vagedes. Am liebsten werden Bücher aus dem Bereich Belletristik ausgeliehen, die Favoriten sind hier Werke von Schätzing oder King – hauptsache spannend. Rosamunde Pilcher? Eher nicht. Gedichtbände werden kaum gelesen, manchmal als Inspiration für den Brief an die Liebste genutzt, Pornographie ist verboten. Rechtsliteratur wird auch häufig ausgeliehen. Vielen Inhaftierten ist es wichtig, sich selbst mit der Rechtslage auseinanderzusetzen. Wie sieht es mit heiligen Schriften aus? Gerade aus den USA hört man oft, dass Gefangene während ihrer Haft zu Gott gefunden haben. Doch die heiligen Schriften sind nicht ausleihbar: Wer nach einer Bibel verlangt, kann sich an den Priester wenden. Da es für den muslimischen Glauben wichtig ist, die Schrift immer greifbar zu haben, hat der Gefangene dann sein eigenes Exemplar.

„Für Häftlinge, die noch unsicher in der deutschen Sprache sind, versuche ich auch Bücher in ihrer Muttersprache bereitzustellen.“ So tummeln sich zwischen den deutschen auch chinesische, tschechische oder russische Bücher. Sogar Finnisch und Hindi sind vertreten. Gerade für diese Gefangenen ist es enorm wichtig, durch die Literatur ein Heimatgefühl zu bekommen.

Aber wie kommen die Bücher zu den Gefangenen? Die Männer bekommen einen Katalog, aus dem sie die Leihen wählen dürfen. Diese werden dann in die Zelle gebracht und auch wieder von dort abgeholt. Die Frauen dürfen sich frei in der Bücherei bewegen. „Auch hier bei uns lesen die Frauen mehr als die Männer“, bestätigt Frau Vagedes. Während viele Männer auf die „Konkurrenz“ zurückgreifen – DVDs – nutzen die Frauen bevorzugt das Buchangebot.

Im Schnitt kommen pro Jahr 150 Bücher neu dazu. Jeder Bereich wird aufgestockt. Hierzu orientieren sich Frau Vagedes und ihre Mitarbeiter an den Bestsellerlisten, aber auch Vorschläge oder Anfragen von Häftlingen werden gerne angenommen. Grundsätzlich wird darauf geachtet, dass die eine Hälfte für Bücher, die andere für elektronische Medien aufgewendet wird und der Bestand so aktuell wie möglich ist.

Gerhard Peschers, Vorsitzender und Gründer der AG Gefangenenbüchereien, nennt sie „Seelenapotheken“. Er ist maßgeblich dafür verantwortlich, koordiniert und vernetzt die einzelnen Stellen. 2006 hat er den Förderverein Gefangenenbüchereien gegründet, um die Angebote in den Büchereien zu fördern. Ein Jahr darauf wurde die von ihm geleitete Gefangenenbücherei in Münster zur „Bibliothek des Jahres“ gekürt. Leider musste diese vor einigen Jahren geräumt werden, da das Gebäude der JVA Münster einsturzgefährdet war. Vor einigen Wochen konnte sie jedoch wieder eröffnet werden.

Wir danken Marion Vagedes und Gerhard Peschers für ihre Zeit und den spannenden Einblick in ihr Berufsleben.



Übrigens gibt es die Möglichkeit, Bücher zu spenden. Freiabonnements für Gefangene e.V. möchte die Informationsversorgung in Haftanstalten spürbar verbessern und hat es sich deshalb seit 1985 zur Aufgabe gemacht, Inhaftierte durch ein umfangreiches kostenloses Leseangebot auf dem Weg zurück zur Gesellschaft zu unterstützen.
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© Recensio Online

Redaktion: Katharina
Lektorat, Korrektorat: Julie

4 Kommentare:

  1. Das ist ja mal ein sehr interessanter Blogbeitrag. Über Gefängnisbüchereien habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Was mich auch interessiert hätte, wie viel wird im Gefängnis wirklich gelesen?
    Alles Liebe
    Annette

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  2. Das ist ja ein super interessantes Thema, über dass ich mir noch nie Gedanken gemacht habe. Aber eigentlich sollte es ja selbstverständlich sein, dass Häftlinge eine Chance haben, eine gewisse "Normalität" im Alltag zu haben. Dazu gehört dann auch ganz besonders, Momente zum Abschalten und für andere Erfahrungen dazu.
    Zumindest das Angebot finde ich wichtig. Ob es genutzt wird?

    Alles Liebe, Katja

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  3. Huhu,

    wow, das ist echt ein spannendes Thema! Ich könnte mir gut vorstellen das gerade im Gefängnis viel mehr gelesen wird,weil man dort mehr Zeit hat und nichts "anderes" zu tun hat.

    LG
    Steffi

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  4. Auch ich habe mir über dieses Thema noch nie Gedanken gemacht, ein wirklich sehr interessanter Beitrag. Ich denke, viele werden durch solche Angebote den Weg zum Buch finden, vermutlich hat es vorher nur nie gepasst. Wunderbar finde ich auch, dass versucht wird thematisch auf Wünsche einzugehen und sogar auf andere Sprachen. Interessant finde ich dennoch, dass auch hier Frauen mehr lesen als Männer, scheint wohl doch in den Genen zu liegen.

    LG Manja

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