Filmkritik: Berlin Alexanderplatz

Ein tragischer Held mit dem Wunsch nach einem besseren Leben, der dem unersättlichen Charme einer Metropole und deren dunklen Verführungen unterliegt.





Filmdaten

Originalname: Berlin Alexanderplatz
Start Deutschland: 16.07.2020
Genre: Drama, Literaturverfilmung
Laufzeit: 183 Minuten
FSK: 12
Verleih: eOne
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Inhalt

Nominiert als offizieller Wettbewerbstitel der diesjährigen Berlinale!

Dies ist die Geschichte von Francis (Welket Bungué). Auf der Flucht von Afrika nach Europa kentert er und rettet sich mit letzter Kraft an einen Strand der Mittelmeerküste. Dort schwört er dem lieben Gott, dass er von nun an ein guter, ein anständiger Mensch sein will. Bald führt Francis‘ Weg nach Berlin und jetzt ist es an ihm, seinen Schwur auch einzuhalten. Doch die Lebensumstände als staatenloser Flüchtling machen es ihm nicht einfach. Das Schicksal wird ihn auf eine harte Probe stellen. Dann trifft er auf den zwielichtigen deutschen Drogendealer Reinhold (Albrecht Schuch) und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer düsteren Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht er. Schließlich wird Francis von Reinhold verraten und verliert bei einem Unfall seinen linken Arm. Francis wird von Mieze (Jella Haase) aufgenommen und aus seiner Verzweiflung gerettet. Die beiden verlieben sich und werden ein Paar. Seine Geschichte könnte sich nun eigentlich gut ausgehen. Doch Francis kann der Anziehung von Reinhold nicht widerstehen ...
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Meinung von Julie

"Dies ist die Geschichte von Francis B. Meinem Francis. Er ist an den Strand eines neuen Lebens gespült worden. [...] Halb lebendig, halb tot. Er dachte, dass er sterben müsse. [...] Ihr werdet sehen, wie Francis nach Berlin kommt, wie er dreimal strauchelt und fällt, wie er immer wieder aufsteht und schließlich endgültig an dieser Stadt zerbricht. [...]"

Burhan Qurbanis Adaption von Alfred Döblins Jahrhundertroman Berlin Alexanderplatz (Erstveröffentlichung 1929) verlagert die Handlung in die Gegenwart. Schon beim Einstieg bekommt man als Zuschauer Gänsehaut, und der tiefe Bass, der die nächtliche Anfangsszenerie begleitet, suggerierte einem direkt: Gefahr! Es dauert eine Weile, bis man die "auf dem Kopf"-Perspektive erfassen und begreifen kann. Und so steigt die Leuchtrakete, die Francis für sich und Ida zündet, nicht empor gen Himmel, sondern versinkt ins Tod bringende Meer. Dorthin, wo Ida ihn verlassen wird.

Francis gerät auf der illegalen Überfahrt von Guinea-Bissau, Afrika nach Europa in Seenot. Er schwört, ein guter Mensch zu sein, wenn er überlebt. Doch das stellt sich als ziemlich schwierig heraus. Vor allem dann, wenn man ein Flüchtling ohne Papiere ist. In einer Stadt, die nur darauf wartet, dass verletzte Seelen sich zu ihr verirren.

Francis trifft in der Geschichte auf die unterschiedlichsten Charaktere. Manche meinen es gut mit ihm, die meisten eher nicht. Dabei verhält er sich teilweise derart naiv, dass man als Zuschauer geneigt ist, ihn mit einer Ohrfeige wieder wachzurütteln. Vor allem Drogendealer Reinhold ist wahrlich nicht der beste Umgang für Francis und doch landet er bei diesem. Fügt sich ein in ein Netz aus Drogenhandel und -konsum, Prostitution, Kriminalität und Macht. Als Reinhold ihn in seine Organisation einführt, macht er ihm zugleich deutlich, dass er nur ein Teil von dieser bleibt, wenn er tut, was man ihm sagt. Dennoch entsteht eine gewisse Verbindung zwischen den beiden, die dem Zuschauer als besonders verdeutlicht wird, als außergewöhnlich. Francis ist nun Franz: persönlicher Haussklave und Freund zugleich. Allerdings nur so lange, wie er gehorcht. Das Verhältnis dieser beiden Männer zueinander ist quasi das Herzstück des Films.

Der Afrikanische Büffel hat sich an viele unterschiedliche Lebensräume angepasst, hat neben dem Menschen kaum natürliche Feinde und den Ruf, eines der gefährlichsten Wildtiere Afrikas zu sein. Angeblich sollen Bullen immer wieder Menschen angreifen und aufspießen. Sie sind wild, unberechenbar und wirken, als würden sie stets eine gewisse Wut in sich tragen. Auf dieses Tier trifft man einige Male im Zusammenhang mit Francis. Er steht dem Büffel gegenüber, und man bekommt das Gefühl, als würde er sich selbst in ihm sehen.

Albrecht Schuch kann auf ganzer Linie überzeugen. Er symbolisiert all das, was die verlockende Kraft des Kapitalismus ausmacht: Geld, Drogen und Sex. Schuch spielt den sexsüchtigen, manipulierenden, extravaganten Reinhold derart überzeugend, dass ich eine gewisse Aversion seiner Rolle gegenüber entwickelte, diese aber dennoch ziemlich interessant und faszinierend fand. Vor allem die Art, wie er sich bewegt, hat etwas Ironisches an sich. Dass jemand, der gern andere unterdrückt, selbst in gebeugter Haltung geht. Dass jemand, der Willen bricht, selbst ein gebrochener Mensch ist. Da ist man hin- und hergerissen zwischen Ekel und Fremdscham ob der Tatsache, dass er Seinesgleichen wie Dreck behandelt, und Mitgefühl, weil auch er unterm Strich nur jemand ist, der jemand anderem gehorchen muss und gefallen möchte. .

Auch die weiteren Darsteller haben einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Jede Rolle wurde authentisch umgesetzt und jeder einzelnen eine persönliche Note verpasst, sodass verschiedene Charaktermerkmale aufeinanderprallen und die Spannung stets aufrechterhalten.

Regisseur Burhan Qurbani hat das richtige Gespür für Situationen, in denen Grundverschiedenes aufeinandertrifft. So packte er in eine Sexszene, in der drei Figuren zu sehen sind, nicht nur die spontane, unbändige Lust einer jungen Frau, die offenbar alles tun würde, um einem der beiden Männer zu gefallen. Sondern auch das menschlich Abstrakte, das einem zuteil wird, wenn man unvorbereitet vom Beobachter zum Aktiven wird und den Platz des anderen Mannes einnimmt. Ich habe mir über diese Szene im Nachhinein noch reichlich Gedanken gemacht und mich gefragt, ob es heutzutage wirklich so einfach und banal ist, fast schon plump, mit jemandem Sex zu haben, der diesen kurz zuvor mit einer anderen Person hatte. Im Film (noir) geht es demnach auch um gesellschaftskritische Aspekte, um zwischenmenschliche Begebenheiten und moralische Denkweisen, um Aufstieg und Fall.

Die Erzählerstimme kommt im Film von Mieze, Francis' spätere Geliebte, die aus dem Reich der Toten spricht. Durch diese von Jella Haase gesprochenen Off-Kommentare - Passagen aus dem Roman - wird eine fast schon epische Dramatik erzeugt. Besonders die flüsternden Passagen verfehlten ihre Wirkung nicht. Manches Mal habe ich den Atem angehalten und spürte die Intensität der Worte mit jedem Herzschlag.

Persönliches Fazit: Eine tief bedrückende Atmosphäre, imposante Bilder, klangvolle Effekte (das Sounddesign ist fantastisch!) und ein großartiges Schauspielensemble - diese epische und erschreckend zeitgemäße Neuverfilmung, die zugleich wie eine Parabel gegen den Rassismus wirkt, muss man gesehen haben!


© Recensio Online
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Cast & Crew

Darsteller:
Welket Bungué
Jella Haase
Albrecht Schuch

... und weitere

Regisseur:
Burhan Qurbani

Produzent:
Jochen Laube
Fabian Maubach
Leif Alexis

Drehbuch:
Burhan Qurbani
Martin Behnke

Kamera:
Yoshi Heimrath

Musik:
Dascha Dauenhauer

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